München, Kunigundenstraße 29 (=K29) - ein in den ersten Jahren des 20.Jahrhunderts erbautes Mietshaus für zehn Parteien. Dreigeschossiger, reich gegliederter Mansard-Walmdachbau in
Jugendstilformen mit durch Doppelerker, Längsbalkon und Zwerchhaus betonter Mittelachse, eingefriedeter Vorgarten. Großzügige Räume mit Stuckdecken, Flügeltüren und eichernem Fischgrätparkett.
Seinerzeit Wohnungen für die gebildete bürgerliche Münchner Mittelschicht. In diesem Haus lebten, wie in nicht wenigen anderen der Umgebung, auch Juden. Seit 1917 zugezogen die Familie Moos: Max
Moos, Ingenieur und seine Frau Sophie. Sie hatten zwei Töchter, die Puppenmacherin und Malerin Hermine und Henriette, die promovierte Literaturwissenschaftlerin.
Heute leben in derselben Wohnung Nelly und Hans Limmer, seit vierzig Jahren. Durch Hinweise aus ihrem Freundeskreis erfahren sie bisher Unbekanntes aus der Vergangenheit ihrer Wohnung. Hier hatte
Hermine Moos 1918/19 die in der Kunstgeschichte viel besprochene Almapuppe für Oskar Kokoschka (O.K.) im heutigen Wohnzimmer von Limmers verfertigt. O.K. konnte diese Künstlerin auf Empfehlung
von Berliner Freunden gewinnen für ihn eine lebensgroße Puppe zu bauen; nach seinen Vorstellungen ein Zauberwesen, gleichend und ersetzend die geliebte Alma Mahler. Diese hatte O.K. schmählich
verlassen. Das Werk entstand in den Mangeljahren gegen Ende des 1.Weltkriegs unter großen Schwierigkeiten in der Materialbeschaffung.
O.K. war entsetzt über das offenbare Missverhältnis zwischen seinen Phantasien und Skizzen und dem was ihm als sein Wunschgeschöpf zugesandt wurde. So schrieb er am 6.4.1919 einen Brief an
Hermine Moos mit einem geradezu vernichtenden Urteil: "Fetzenbalg".
Dennoch, die Puppe wurde wundersam berühmt, sie wurde Modell für einige bedeutende Gemälde, und so ist sie heute aus der Kunstgeschichte nicht mehr wegzudenken.
Schriftliche Zeugnisse von Hermine Moos finden sich bisher nirgends, keine Antworten auf die vielen drängenden Briefe von O.K. So weiß man kaum etwas über ihr Leben. Selbst noch in den 1984 veröffentlichten Briefen
Oskar Kokoschkas ist ihr Wohnort falsch zugeordnet – Stuttgart. Tatsächlich wohnte die Familie Moos seit 1917 in München in K29. Herausgefunden hat dies die Journalistin Justina Schreiber, die
mit Familie Limmer, die jetzt in der Moos-Wohnung lebt, bekannt ist. So konnten die wenigen Fotos, die es vom Alma-Fetisch und Hermine Moos gibt, eindeutig als Abbildungen aus dem
Wohnzimmer dieser Parterrewohnung in K29 zugeordnet werden.
Justina Schreiber und ihrem Rundfunk- Feature (Oskars Puppe – Spielzeug eines Malers, Bayer. Rundfunk, 19.8.2012) ist es
zu danken, dass Hermine Moos, die bisher gänzlich vom großen Schattenwurf O.K.’s verdeckt war, Gestalt bekommen hat als Mensch und als Künstlerin, ihr Lebensschicksal tritt berührend ins
Helle.
Später können Nelly und Hans Limmer bisher unverbundene Fakten aus dem Biographischen Gedenkbuch der Münchner Juden
zusammenführen. Vater Max Moos starb 1924, Hermine Moos nahm sich 1928 mit einer Überdosis Veronal das Leben. Dr. Henriette Moos verweigerte die Deportation und wählte auch den Freitod. Die
Mutter, Sophie, wurde, wie die anderen annähernd 4000 Münchner Juden, im Zeitraum 1941-1943, deportiert und ermordet. Dieses Ende hatten auch die weiteren fünf jüdischen Menschen, die
zwischen 1939-1943 mit in der Wohnung der Familie Moos oder im 1.Stockwerk des Hauses wohnten.
Diese Internetseiten, insbesondere die Briefe ins Gestern, können als ein Stück narrativer Geschichtsschreibung, als persönlich
gefärbte Zeitgeschichte verstanden sein. Sie geben zusammen mit der am Haus angebrachten Gedenkinstallation* Hermine Moos einen Platz im Licht der Kunstgeschichte und den ermordeten Juden einen
Ort würdiger Erinnerung.
Hans Limmer, 26.01.2015
*Witterungsbedingt erst ab Mai 2015
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