Briefe ins Gestern - An Hermine Moos

von Nelly Limmer


 

München, 9. November 2014 --- 9. November 1918, 1938, 1989

 

9. November - ein geschichtsträchtiges Datum! Wie viele Hoffnungen, wie viele große Ängste, wie viel Gewalt, wie viel Blut tränken immer wieder neu diesen besonderen Novembertag.


Liebe Hermine,


es fällt mir schwer, unter diesem Datum erneut an Sie zu schreiben.
Sie können es nicht wissen, heute vor 76 Jahren veranstaltete die braune Nazi-Regierung mit ihren gewalttätigen Horden die erste staatlich legitimierte und gelenkte Pogromnacht im gesamten Deutschen Reich. Eine widerliche brutale Hetzjagd auf jüdische Bürger begann unter dem Motto: Es lebe die arische Rasse, nieder mit allen Juden! Sie sollen kein Existenzrecht mehr haben! Deutschlandweit wurden Menschen gehetzt, geschlagen, ausgeraubt, Einkaufsgeschäfte - wirtschaftliche Existenzen ausgeplündert, zertrümmert.

Der mehr oder weniger seit Jahrhunderten - gerade auch in Deutschland - schwelende Hass auf Juden wurde entfesselt, hemmmungs- und schonungslos. Diese Nacht dürfen Deutsche nie vergessen. Sie wurde Reichskristallnacht genannt, heute wird klarer von der Reichspogromnacht gesprochen. An diese Nacht anschliessend wurden den Juden Zug um Zug alle staatsbürgerlichen Rechte genommen.

Ob Sie Vorahnungen hatten? Sicher haben Sie zu Ihren Lebzeiten den Antisemitismus schon bedrohlich  zu spüren bekommen. Die berufliche Aussichtslosigkeit als Künstlerin in den Kriegsfolgejahren und nach dem Desaster mit der Kokoschka-Puppe zu existieren, ängstigte Sie das? Und dann der Schmerz um den geliebten, 1924 verstorbenen Vater Max?

Was auch immer ihre Motive gewesen sein mögen, an dieser Welt zu verzweifeln dafür gab es und gibt es bleischwere Gründe. Ich stelle mir manche Frage, woher Sie die Kraft nahmen, diese letzte Konsequenz zu ziehen. Ja, liebe Hermine, dieser Mut, denn ich finde, dass es - neben der absoluten Verzweiflung - auch noch große Entschlossenheit braucht, so einen Endpunkt des eigenen kostbaren Lebens selbst zu setzen.

Zurück zu diesem unauslöschlichen Datum des
9. November 1938:
An vielen Orten Deutschlands wird seit Jahren mit tiefer Beschämung und Schmerz an diese schreckliche Nacht als Beginn der folgenden unvorstellbaren deutschen Niedertracht erinnert. In München wird in einer öffentlichen Gedenkveranstaltung vor der Synagoge der Tausende ermordeter jüdischer Münchner gedacht. "Jeder Mensch hat einen Namen", sie werden alle verlesen.

So auch der Name Ihrer lieben Mutter: Sophie Moos. Bitte erregen Sie sich nicht zu sehr, liebe Hermine. Inzwischen ruht sie für immer von ihrem Leben aus, das so grausam zu Ende ging. In mir hat sie eine aufrichtig trauernde Altersgenossin gefunden. Ich gehe mit Gedanken und Gefühlen den schweren Weg nach, den sie gezwungen wurde zu gehen. So allein trotz der Hunderte, die dabei waren, als es auf Umwegen und mit Zwischenstationen in das Ghetto Theresienstadt und dann in das Vernichtungslager Treblinka ging, unausweichlich dem Tod entgegen.
Tief berührt bin ich von dem schmerzvollen Schicksal ihrer Mutter, das ich erfahren habe. Durch Zufälle und Recherchen ist es für mich aus der millionenfachen Anonymität der Ermordeten gegenwärtig geworden.


Manchmal treten neben die Bilder zu Ihrer Mutter, sie war 77, so alt wie ich jetzt bin, persönliche, die meiner Flucht aus Pommern, Anfang 1945 entlehnt sind: Eisiger Winter, tiefer Schnee, Hunger, stundenlange Märsche auf Ackerwegen, dazu die ständige Angst, die Eltern zu verlieren, die mit drei Geschwistern vornweg zogen. Ich erwähne diese  biographische Erfahrung nur in Bezug auf existenzielle Angst, sonst steht mir und niemandem ein Vergleich mit den Deportationszügen zu.
Ich stelle mir vor, wie trostlos es für Ihre Mutter gewesen sein muss ohne Sie, Hermine, und ohne Henriette zu sein in ihren letzten Lebenstagen.

 

Ach, Henriette, ihre liebe, geliebte jüngere Schwester. Glückliche gemeinsame Kinderzeit und Jugend in Frankfurt am Main. Und dann ging sie -sehr emanzipiert- an die Heidelberger Universität, um 1914 dort in Literaturwissenschaften zu promovieren. Erinnern Sie die lebhaften interessanten Reisen mit ihr, wohl auch mal mit den lieben Eltern und die Berlinbesuche?
Wird Ihnen Henriette später sehr gefehlt haben in den vielen Monaten des Jahres, in denen sie Berlin vor München den Vorzug gab? Konnten Sie mit ihr vertrauensvoll über ihre Lebensängste reden?
Ab 1937 lebte Henriette dann ja dauerhaft bei  Ihrer Mutter hier in K 29, wohl auch um ihr beizustehen, denn der Alltag jüdischer Menschen wurde immer schwerer mit all den Verboten, Verordnungen, Kontrollen. Für Sophie, Ihre Mutter, war Henriette ganz sicher eine tröstliche Unterstützung. Beide Frauen kämpften sich durch Hass von Nachbarn, nächtliche Auftritte der Polizei, durch alle erbärmlichen Erniedrigungen hindurch bis Mai 1941. Dann wurden auch sie in eine Sammelunterkunft, in die Römerstraße 6 eingewiesen. Henriette muss gewusst haben was das bedeutete. Und so setzte auch sie wenige Tage vor dem angeordneten Weitertransport, am 13.11.1941, ihrem Leben ein Ende. Grund für ihren Suizid, so kann man in den amtsdeutschen Akten lesen: "Schwermut". Schwermut, eines der vielen zynischen Deckwörter der nationalsozialistischen Bürokratie, ebenso wie zum Beispiel „Umsiedlung“ ein Synonym für Deportation in ein Konzentrationslager im „deutschen Osten“ war.

Ich sehe Ihre verehrte Mutter fassungslos, verstört, todtraurig sich von Henriette endgültig verabschieden.
Jetzt liegen ihre beide Töchter auf dem alten jüdischen Friedhof an der Ungerer Straße, wo auch Sophies Ehemann, Max Moos, Ihr Vater, bestattet wurde. Wir besuchen  ab und an ihre Gräber.
Liebe Hermine, ich denke, jetzt brauchen Sie erstmal Zeit für sich, um all diese für Sie kaum fassbaren, doch wahren Nachrichten über Ihre Familie, die Sie 1928 schon verlassen haben, als wirklich geschehen zu erfassen.

Bitte verzeihen Sie mir diesen Brief. Ich spüre eine innere, ja freundschaftliche Verbindung zu Ihnen, empfinde fast physisch wie weh Ihnen ums Herz ist nach meinen trostlosen Berichten über Ihre Liebsten. Hätte ich Ihnen Persönliches verschweigen sollen? Ich habe mich für Offenheit entschieden.
Mich treiben diese Schicksale erheblich um. Tags, dann wünsche ich mir für die kommende Nacht einen guten Schlaf. Und bin ich nachts unruhig, weil ich an die elendig umgekommenen Menschen aus unserer Wohnung denke, wie sie ebenso wach lagen, voller Ängste auf Geräusche und Stimmen von draußen lauschten, auf Tritte der Geheimen Staatspolizei, Schritte der Polizei – diese kam gerne nachts oder in den frühen Morgenstunden – ja, dann weiß ich, dass meine paar Wachstunden nichts sind.
Liebe Hermine, ich umarme Sie und wünsche Ihnen einen heilsamen Schlaf, den hilfreichen Seelentröster.

Herzlich,

 

Nelly Limmer