Briefe ins Gestern - AN HERMINE MOOS

von Nelly Limmer


 

München, 12. August 2014 --- Hermines Geburtstag

 

Liebe Hermine Moos,

 

ich schreibe nicht "Sehr geehrtes, liebes Fräulein Moos", wie Ihr ehemaliger großer Auftraggeber Oskar Kokoschka, sondern als emanzipierte Frau des 21. Jahrhunderts spreche ich Sie mit Ihrem schönen Vornamen Hermine an.

Selbstbildnis Oskar Kokoschka, 1914
Selbstbildnis Oskar Kokoschka, 1914

So ist das heutzutage, von Amerika, über England, rasch auch in Deutschland. Ein paar persönliche Kontakte und schon wird's "vornämliche" üblich. Dennoch bleibe ich voller Achtung beim "Sie". Ich fasse Mut endlich brieflich Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Ihr heutiges Geburtstagsdatum ist ein passender Anlass. In diesen Tagen hat auch das Haus Kunigundenstraße 29 Geburtstag, wird fast 100 Jahre alt. Es ist das Haus, in dem ich mit meiner Familie lebe und in dem auch Sie Ihre Wohnstätte hatten.

Hermine Moos mit Alma-Puppe, 1919
Hermine Moos mit Alma-Puppe, 1919

Was hat es alles erlebt mit seinen Bewohnern, in den wechselnden Zeiten, welche Ereignisse erfüllten und bedrohten es, welche Hausnachbarn, damals und heute? Eine kleine Zeitgeschichte würde entstehen.

 

 

Da wir seit 40 Jahren  die Hochparterrewohnung  behausen, eben die gleiche, in der auch Sie gelebt und gearbeitet haben, will ich Ihnen etwas Bericht erstatten, erzählen warum ich Ihnen schreibe, wie ich überhaupt von Ihnen und Ihrem Leben erfahren habe. Dabei sind die Jahre ab 1914 bis in die 50er Jahre zeitgeschichtlich sehr gut dokumentiert, aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet. Dennoch scheinen mir einige "Eckdaten" besonders wichtig.

 

1914, der 1.Weltkrieg mit seinem lange nachwirkenden verstörenden Elend in allen Bereichen der Wirtschaft, der Künste, des gesellschaftlichen Lebens, die "Brotnot" wurde allgemein und alltäglich. 1918 die letztlich gescheiterte, niedergeschlagene Revolution. Für nicht wenige Künstler,  Intellektuelle und die radikalen Linken eine schmerzliche Niederlage.

Nach Ihrem Tod, Hermine, 1928 folgten wieder Hungerjahre, die scharfe Weltwirtschaftskrise (1931), der hoch kochende ekelhafte und doch von Millionen Deutschen bejubelte Nationalsozialismus; ab 1933 die gnadenlose Entrechtung und Verfolgung, schließlich die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung (auch der patriotisch begeisterten Mitkämpfer in der deutschen Armee des 1. Weltkriegs), die erschütternden Züge mit den Ausgegrenzten in die Vernichtungslager.

 

Die gesamte Generation meiner Eltern und Großeltern (mit sehr wenigen Ausnahmen) wollte am liebsten nichts wissen, nichts hören, nichts sehen von diesem singulären Genozid an jüdischen Menschen, von der Ermordung Homosexueller, Sinti, Roma und Kommunisten, keine Gnade für Menschen, die nicht in die „reine arische Rasse“ und ihre Ideologie passten. Von einer Schwabinger Überlebenden, Judith Hirsch, habe ich dazu den Satz gelesen: „Niemand hielt es auf, niemand schaute hin, niemand stellte Fragen.“

1939, der Beginn des 2. Weltkrieges, geführt mit deutschem Größenwahn an allen Ecken Europas und darüber hinaus. Nicht der bis zum dramatischen Ende von Hitler stets beschworene große Endsieg war 1945 das Ergebnis, sondern die alliierten Sieger fanden ein zerstörtes, zertrümmertes, auch moralisch vernichtetes, geteiltes Deutschland vor.

Dann die Jahre von hin und her ziehenden  Flüchtlingsgruppen quer durch Europa, das Glück von Überleben, sich Wiederfinden, von nachsichtiger Bestrafung der großen und kleinen Kriegstreiber und Mittäter, ebenso der gemeinen, quälenden Mörder und der leugnenden Henker der  Konzentrationslager und medizinischen Anstalten durch eine immer noch braun durchwebte Justiz.

 

Hoffnungsvoll das Versprechen aller neuen demokratischen Parteien auf die Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft von Grund auf, und 1949 das neue Grundgesetz, der Wiederaufbau, bald aber schon Wiederbewaffnung, neue Wehrpflicht, schleichende Aushöhlung des Grundgesetzes.....

 

Ach, Hermine, die Lernfähigkeit der Menschen ist sehr, sehr begrenzt.

 

Doch ich wollte Ihnen ja primär etwas über die Kunigundenstraße 29 erzählen, die ich von nun an der Einfachheit halber K29 nennen werde, falls Sie, liebe Hermine Moos, überhaupt einer Korrespondenz zwischen uns zugeneigt sein sollten.

 

Für heute grüßt Sie vielmals

 

Nelly Limmer