briefe ins gestern - an hermine moos

von Nelly Limmer


München, 17.Dezember 2014 --- 
Chanukkafest, Advent, Weihnachten

Liebe Hermine,

 

heute wird in jüdischen Familien am Kerzenleuchter, dem Chanukkiah,das erste Licht entzündet. Auch in deutschen Familien brennen Adventskerzen, unabhängig von Religionszugehörigkeit. Das Licht, die Sehnsucht aller Menschen nach Licht! Ich weiß, das Chanukka-Festtagsdatum ist abhängig vom Mondkalender. Fein, dass es in diesem Jahr mit unserm Advent und Weihnachtsfest überein stimmt.

Es ist mir ein schöner Gedanke, dass heuer zur gleichen Zeit – am 24. Dezember – bei den jüdischen Freunden und bei uns Kerzen brennen.

Weihnachten bei Limmers, 2000
Weihnachten bei Limmers, 2000

Ich male mir gerade aus, wo der neunarmige Leuchter in der Wohnung Ihrer Familie stand? Welche Freude Sie empfunden haben, wenn das erste Licht angezündet wurde! Nicht zu vergessen die kleinen Geschenke. Das ist bei uns an Weihnachten auch heute noch so, für unsere nun schon älteren Kinder - Sonja und Robert - und ihre neuen Familien. Sie bleiben eben die Kinder, wie seinerzeit Sie und Henriette für Ihre Eltern.

Ein hellerer Beginn für meine Berichterstattung als in den ersten Briefen.

Unsere Kinder sind mit uns vor 40 Jahren in K29, in diese Wohnung im Erdgeschoss rechts eingezogen. 1974, eine Zeit, in der sich die Mehrzahl der Deutschen Zweitautos, auch schon Eigenheime und Eigentumswohnungen erarbeiteten, wünschten.

Wir allerdings wünschten uns Platz, ein eigenes Zimmer für jeden aus der Familie, nachdem wir bis dahin unser Leben in sehr engen Verhältnissen führen mussten. Diese wunderbare, großzügig geschnittene Wohnung! Als neue Mieter waren wir begeistert, und sind es heute noch. Natürlich sind unsere Kinder längst ausgezogen; unsere Katzen, Momo und Lawrence, gestorben.

 

Wer ging und geht hier nicht alles ein und aus!

Gäste aus England, Polen, Italien, Frankreich, Ungarn – Gespräche über Kunst, über Literatur, über Politik, über Musik. Das Klavier wird bespielt, die vielen Bücher verlocken zum Ausleihen, Bilder und Skulpturen füllen jede freie Ecke. Und meist wird gut gegessen, das erfreut alle. Ja, Hermine, auch wenn wir kein Eigenheim besitzen, fühlen wir uns privilegiert;

allein schon wenn wir an die lange Friedenszeit denken, in der wir in Deutschland seit 1945 leben. Da mein Mann als Zehnjähriger gegen Ende des letzten Krieges  die Bombennächte in München, das arg zerstört wurde, miterlebte, und ich als Achtjährige die entsetzliche Flucht aus Pommern überlebte, wissen wir beide viel über Hunger, Kälte, Tod, Armut…    wir sind dankbar für unser jetziges Leben -  wir teilen gern mit anderen - auch Mahlzeiten.

In unserer Tageszeitung, der Süddeutschen Zeitung, las ich neulich über den Sozialarbeiter und Koch David Höner. Er sagte im Zusammenhang völkerverbindender Aktivitäten: "Ich bin der festen Überzeugung, dass Essen und Trinken Menschen jeder Herkunft und Klasse verbindet. Gemeinschaft und Frieden manifestieren sich fast immer durch Gastfreundschaft." (Cuisine sans Frontières).

 

10.Mai 1987, Mutlangen, Muttertagsblockade - Festnahme von Nelly Limmer
10.Mai 1987, Mutlangen, Muttertagsblockade - Festnahme von Nelly Limmer

Sehr häufig sind die Diskussionen am Esstisch friedenspolitische gewesen; stand unausgesprochen über der Tafelrunde mein langjähriges Lebensmotto „Das Politische ist persönlich – das Persönliche politisch.“

Diese Zeile las ich zum ersten Mal bei der von mir geschätzten Psychoanalytikerin Thea Bauriedl.

Viele Friedenskonferenzen zu Themen wie Ziviler Ungehorsam gegen amerikanische Atomraketen

auf deutschen Straßen, gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Bayern (WAA), gegen die Nato und ihre angeblich „humanitären“ Kriege… gab es an unserm großen Wohnzimmertisch.

 

An fröhlichen Tagen aber wurden im Salon Hutfeste, Faschingsfeste, Geburtstage, Konzerte gefeiert. Alles vielleicht ein bisschen anders als zu Ihrer Zeit, Hermine, also hundert Jahre zuvor, aber doch auch Parallelen, oder?

 

Unsere Gäste, eine bunte Liste gibt es da: Künstler wie Bogomil Karlavaris,César Manrique, Leon Jonczyk, Sylvia Finzi, Kai Teschner, Hans Angerer, Emil Scheibe ...wir beherbergten aber auch eine psychisch kranke, angebliche Brandstifterin, einen zum Tode verurteilten Iraner, den wir versteckt hielten bis ich sein Asylrecht erkämpft hatte.

Oder zum Beispiel die Gäste mit Namen HANS: Klar, der für mich wichtigste Hans von allen ist Dauergast bzw. derjenige, der hier unsere Miete zahlender Hauptmieter ist: Hans Limmer. Seit 58 Jahren gehören wir fest zueinander.

Da gab es dann noch den Hannes Fischer, sehr oft; den Hans Löwenstamm, diesen Freund und Mentor, leider nur vor 1974, noch in der alten Wohnung, Forggenseestraße; den Dr. Hans Lamm, den Professor Hans Günther Adler, genannt H.G. Adler.

Also "der Lamm", wie er in seinem näheren Umfeld gern genannt wurde, er war Kollege von Hans Limmer an der Münchner Volkshochschule. Er hat in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als es den Begriff noch gar nicht gab, das Multi-Tasking vorgelebt. Hermine, Sie können nicht wissen, was das meint. Ganz einfach: Viele Tätigkeiten gleichzeitig ausführen. Ob es der richtige Weg ist für uns heute, die wir alle angeblich keine Zeit haben? Da melde ich Widerspruch an. Ich halte es mit der Heiligen Therese von Avila: „Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn beten, dann beten“, achtsam (wie auch die Taoisten sagen), aufmerksam eine Arbeit nach der anderen tun.

Also „der Lamm“, mit Knopf im Ohr, Nachrichten aus aller Welt hörend, gleichzeitig einen Brief auf der Schreibmaschine klappernd, dem Besucher mit dem anderen Ohr zuhörend, der Sekretärin zurufend, sie möge einen Knopf an seine Jacke nähen, eigentlich schon auf dem Sprung zu seinem Radl. Durch ganz München fuhr er mit dem Rad, dabei war er zu der Zeit (1970-1985) Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde von München und Oberbayern.

Unvorstellbar, dass die heutige Präsidentin, Charlotte Knobloch, wenn sie ihr streng bewachtes Gemeindehaus verlässt, ohne gepanzertes Auto und ohne Leibwächter in K29 vorfahren würde wie damals Hans Lamm.

Wir sind besorgt.

Es wird deutlich, antisemitische und rassistische Stimmungen, gar Gewalttaten gegen Juden und Ausländer sind mit dem Ende des Naziregimes nicht verschwunden, häufen sich leider sehr.

Es ist nicht nur der so genannte „rechte“ Rand der Bevölkerung, viel gravierender ist, dass diese Ressentiments sich wie auch früher bis  weit in die Mitte der Gesellschaft wuchernd zeigen.

KRIEG-MACHT-GELD, Im ewigen Eis, Hans Angerer, 2003
KRIEG-MACHT-GELD, Im ewigen Eis, Hans Angerer, 2003

So gehen zum Beispiel seit Wochen Tausende Menschen, nicht nur aus den verarmten Randschichten der Bevölkerung und aus dem östlichen Teil der Republik auf die Straße. Sie tränken die Öffentlichkeit mit Stimmungsmache gegen Ausländer, gegen hier lebende und arbeitende Muslime, gegen Juden und gegen die Flüchtlinge aus den vielen Ländern, wo diese nicht mehr leben können. Dass diese Kriege dort auch mit Waffen aus den deutschen Rüstungsexporten, die unsern Wohlstand vermehren, geführt werden, wird wie manch Anderes nicht artikuliert.

 

Besonders wir Alten sollten eindeutig und unmissverständlich Stellung nehmen gegen die Hasstiraden aus der Mitte des Volkes, unsere demokratischen Grundwerte verteidigend. Denn wir haben erfahren zu welch grauenhaftem Ende solche anfänglich nur als Pöbeleien verharmloste Parolen führten.  

Wir werden hoffentlich mehr als Zehntausend sein am 22.Dezember 2014, am Platz vor dem Nationaltheater, den Sie, Hermine, sicher noch von Besuchen der Oper kennen. Dass es am Abend dieser Münchner Demonstration – fast ist es exemplarisch zu nennen, denn wir leben eben längst in einer internationalen Gesellschaft - dort „Carmen“ gibt mit Sängern aus aller Welt (Nazmi, Borghini, Lee, Vas, Nakamura, Margaine…) das passt doch zum Thema.

Es muss signalisiert werden: Nie wieder eine Situation wie 1933, eine Machtergreifung der Rassisten und Menschenverächter zulassen!

 

Liebe Hermine, dieser Brief ist nicht nur lang, sondern jetzt auch noch lange liegen geblieben wegen dringlicher Weihnachtspost an die Lieben in aller Welt. Und jetzt muss ich sofort Schluss machen, weil Hans und ich los müssen - wir wollen zur Demonstration.

 

Bis bald,

 

Nelly Limmer

 

P.S. Das Plakat für die Demo lege ich bei.