briefe ins gestern - an hermine Moos

von Nelly Limmer


 

München, 16.November 2014 --- Volkstrauertag

Liebste Hermine,


vielmals Dank für Ihre Zeilen. Beim Lesen spüre ich das Zittern Ihrer Hände, Ihres Körpers, Ihrer Gedanken als Sie von mir über das Ende Ihrer Familie erfuhren. Und ich höre Ihre drängenden Fragen. So sind wir verbunden – weit über Ihren Tod hinaus – durch diesen Briefwechsel. Über Manches im Leben läßt sich ja vielleicht auch besser schreiben als reden. So z.B. über das Datum dieses Briefes:


    Volkstrauertag! Trauert das ganze Volk? Betrauert es eventuell sehr selektiv die erschreckende Zahl der toten Soldaten des ersten und des zweiten Weltkrieges? Sind die weltweit mehr als 65 Millionen Opfer dieses letzten völlig wahnsinnigen totalen Krieges alle eingebunden in die Volkstrauer? Sind auch die Opfer allen Rassismus im Blickfeld der öffentlichen Trauer?
Hermine, ich habe da meine Zweifel, leider.

Gilt die Trauer nicht vor allem nur den Soldaten, den "Helden, die fürs Vaterland gefallen sind?"


Warum sonst wird gerade die Bundeswehr zur Parade und musikalischen Ehrung der Toten für diesen Tag gebeten?
Auch wenn Sie, liebe Hermine, vermutlich im 1. Weltkrieg ebenfalls verwandte und befreundete Männer verloren und betrauert haben, werden Sie doch nach allem was ich Ihnen schon berichtet habe, meine Zweifel an diesem für mich militaristisch betonten Trauern teilen.
                  
Jetzt aber fahre ich fort Ihnen - wie Sie wünschten - weiter zu berichten über die anderen jüdischen Hausbewohner in K29:

Da ist der gute "Löb" (Leopold Westheimer). Er lebte verhältnismäßig lange bei Ihrer Mutter mit in der Wohnung, seit 1939. Er kam aus Rothenburg ob der Tauber. Sicher hatte er sich ein freundliches geruhsames Leben als Familienvater, als geachteter Geschäftsmann(Lederhandlung) vorgestellt. Doch gerade dieser Ort, Rothenburg, nahe der burschenschaftsverseuchten Universitätsstadt Heidelberg, trat ganz früh als herausragend antisemitisch auf. 1933, nach unwahren Gerüchten über "Löb", benutzten die Horden der SA und des Reichsarbeitsdienstes ihn für eine widerwärtige beschämende öffentliche Vorführung. Aus einem Café herausgezerrt wurde er barfuß mit einem Schild um den Hals durch die Rothenburger Straßen getrieben: "Ich bin ein Saujude und habe ein deutsches Mädchen geschändet.“ Trotz immer wiederkehrender Inhaftnahme wurde "Löb" zum mutigen Kämpfer gegen seine Verleumdung. Ende Oktober 1938 wurde er - wie auch die letzten 17 Juden - aus Rothenburg vertrieben. Auf Irrwegen landete er in K29. Am Ende nahm man auch ihm das Lebensrecht. Am 24.6.1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, fast zeitgleich mit Ihrer lieben Mutter, Hermine. Sein dort vermerktes Todesdatum war der 1.9. des Jahres 1942.


Mit dem gleichen Transport wie "Löb" musste Ottilie Wolff, seine Zimmernachbarin in K29, fort. Wie viele Abende wird man in unserer Küche zusammen gesessen sein, mögliche Fluchtwege gesucht und diskutiert haben. Ob sich die verschiedenen Bewohner dieser großen Wohnung mochten und freundschaftlich unterstützten?


Ob Ihre Mutter so mitleidsvoll war und immer wieder Leidensgenossen aufnahm? Denn eigene Wohnungen mieten, das war den Juden seit spätestens 1939 untersagt. Oder waren alle Einquartierungen bei ihr abgesprochen mit der Israelitischen Kultusgemeinde München, die entsprechend einer NS-Anordnung alle Juden privat unterbringen musste, meist nachdem diese „entmietet“, ihre Wohnungen, Häuser arisiert worden waren?
Ottilie Wolff, ursprünglich 1924 aus Frankfurt am Main/Bad Homburg: Was hatte sie bewogen nach München zu kommen? Vermutlich wurde sie dann aus einer anderen Münchner Wohnung vertrieben  und gehörte erst ab Mai 1940 zu den Bewohnern der Moos-Wohnung. Frau Wolff wurde dann herum geschoben in Barackenlager, israelitisches Altenheim und für den 18.10.1942 wird ihr bitteres Ende in Theresienstadt verzeichnet.

Ernestine Schwarz, Jahrgang 1871, gehörte ab Januar 1939 in die Moos’sche Wohnung, direkt aus Hainsfarth, Kr.Nördlingen kommend. Zwangsweise? Später, 1941, in der Sammelstation Römerstraße 6 muss Ernestine Schwarz Henriette noch einmal wieder gesehen haben. Dort trafen sich für kurze Zeit ihre Leidenswege. Ihr Transport "in den Osten" ging  am 20.11.1941 direkt nach Kaunas. Fünf Tage später wurde auch sie aufgeführt in der Liste der Ermordeten. 
                      
Nun steige ich noch in den 1.Stock, wo Ella Geiershöfer, geb. Rose und ihr Mann von Mitte 1938 ein Jahr lang logierten. Karl Geiershöfer, ein promovierter Jurist, Justizrat und Rechtsanwalt a.D.: Gewiss hatte man ihm - wie fast allen jüdischen Akademikern - die Berufserlaubnis entzogen. Ärzte durften nicht mehr in einer deutschen Praxis oder Klinik ordinieren, Rechtsanwälte waren nicht mehr zugelassen an den Gerichten, Lehrer, Universitätsprofessoren wurden entlassen. Übrigens durften auch jüdische Schüler nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Eine engagierte Gruppe heutiger Gymnasiasten des Schwabinger Gisela-Gymnasiums hat erst kürzlich dazu eine Dokumentation über das Schicksal ihrer ehemaligen Mitschüler vorgestellt. 
Dr. Karl Geiershöfer und seiner Frau aus K29 gelang es - sicher auf abenteuerlichen Um-Wegen - nach Luxemburg zu emigrieren, voller Hoffnung auf Schutz und Sicherheit. Das Schicksal, nein, das gnadenlose fanatische Naziregime holte sie auch dort ein.  Der Name Dr. Karl Geiershöfer, seine Daten, sein Todestag sind im Archiv Theresienstadt unter dem 4.4.1943 festgehalten.

Ich wollte Ihnen noch sagen, Hermine, dass ich alle Toten

Gang der Erinnerung (Bildrechte: Gerhard Willhalm, 2003)
Gang der Erinnerung (Bildrechte: Gerhard Willhalm, 2003)

mit diesen uns bekannt gewordenen Namen im „Gang der Erinnerung“ – einer berührenden Installation im Haus der Israelitischen Kultusgemeinde München - wieder gefunden habe, ein leiser Ort wider das Vergessen.

 

Liebe Hermine, von so tiefer Tragik ist dieser Bericht. Seien Sie versichert, das ist der schwierigste Brief, den ich in meinem langen Leben schrieb, wissend, dass ich Weh und abgrundtiefen Schmerz verursache. Und dabei die Beschämung über "mein" Volk, das dieses Demütigen, Verfolgen, Morden millionenfach als rechtens und selbstverständlich ansah.

Diese wenigen Menschen aus K29, ihre Wege, ihr Lebensende, das ich Ihnen skizzierte, sind nur ein kleines Teilchen im Schuldbuch der systematischen, blutigen, seinerzeitigen deutschen Mordmaschinerie. Das Erinnern daran wird hoffentlich sein wie die Wellen des Meeres ans Ufer schlagen: klagend und mahnend bis ans Ende der Menschheitstage.
          
Liebe Hermine, Sie können sich vorstellen, dass es für mich und meinen Mann sehr bedrückend war, über die Tode unserer Vorbewohner zu erfahren. Wie können wir die Luft atmen, den Boden betreten, in den gleichen Räumen uns bewegen, die mit soviel Angst und Leid erfüllt waren. Wie damit umgehen? Wie soll sich der Nachtschlaf einstellen, wenn  Schreckensbilder nicht aus dem Kopf weichen? Das fragten uns auch Freunde  besorgt.

Nach langen Gesprächen schien uns notwendig, die Erkenntnis zu zulassen, dass es unser aller Schicksal als Menschen ist, in einem Jammertal von existenziellem Leid, von Tod und Gewalt zu bestehen. Wahrscheinlich können wir die freundlichen Seiten unserer Existenz doch nur erleben, weil wir gelernt haben, die Düsternisse wenigstens zeitweilig auszublenden und zu verdrängen, oder anders gesagt – es würde uns gut tun, die Balance zu finden in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Schrecken und Schönheit, mit Gewalt und Güte, mit Krieg und Frieden, mit Trauer und Freude, mit Empathie und Abgrenzung, mit Erinnerung und Zukunft…

Auf diesem Hintergrund entstand die Idee  einer  Installation, die wir Ihnen und den Ermordeten zur Erinnerung an diesem Ihnen so vertrauten Hause anbringen werden. Dabei waren Sie und die künstlerische Verfertigung der inzwischen berühmten Puppe ein  gewichtiger Grund: Wir wollten unbedingt auf  Sie und Ihr Werk hinweisen. Sie gingen ja fast verloren als Person und als Name neben den vielen Stories über Kokoschka, Alma und ihr alter Ego - die Puppe. Ein ebenso gewichtiger Grund für die Tafel-Installation waren die wieder gefundenen Namen der anderen jüdischen Bewohner unserer Wohnung und derer aus dem 1. Stockwerk.

Nachdem ihre Leichname längst verbrannt sind, bekommen sie nun wieder eine Identität als einzelne Menschen und wir können uns ihrer erinnern, um sie trauern.

 

Hier möchte ich eine Textstelle aus dem Buch einer befreundeten Schriftstellerin aus der Nachbarschaft zitieren. Ada Zapperi-Zucker schrieb in „Ein Tag in Bozen“ über das Schicksal eines gequälten jüdischen Freundes:

"Vielleicht ist sich heute niemandem von uns bewusst, welch moralische Schmach, welche Schande ein menschliches Wesen, gleich welcher Rasse und Kultur, empfindet, wenn seine Würde erniedrigt, gedemütigt, mit Füßen getreten wird, bis zur völligen Annullierung, bis zur Zerstörung des feinfühligsten Teils seines Ichs."

Bis zum Verlöschen ihrer Namen, keine Friedhofssteine, nur modernde Register. Die Gedenkinstallation  am Haus K29 wird benennen, erinnern, mahnen.

Dennoch, das Weltenrad dreht sich unaufhörlich weiter. Und so gab es in K29 nach 1945 auch hellere, leichtere Zeiten. Ich bin sehr froh, liebe Hermine, dass wir in Ihrer Wohnung wohnen und ich Ihnen demnächst auch Freundliches über Bewohner und Gäste vorstellen kann.

Einstweilen genug. Wiederum eine gute Nacht wünscht


Nelly Limmer